Montag, 04.11.2024
Pionierin in der Küche
Ihr Credo lautet: «Ein Mensch, der nicht gerne isst, kann nicht gut arbeiten.» Warum ist gutes Essen wichtig?
Was gibt es Schöneres als gutes Essen? Wenn man schlecht gegessen hat, kann man nicht gut arbeiten. So sehe ich das. Gutes Essen hingegen macht stark, zufrieden und glücklich. Ich wollte immer schon Köchin werden, lange bevor ich wusste, was das ist. Weil ich die Reaktionen sah, wenn meine Mutter einen Kuchen backte oder am Sonntag eine Poularde kochte. Ich wollte ebenfalls Freude bereiten und «cuistot» werden, wie wir auf Französisch sagen.
«Gutes Essen macht stark, zufrieden und glücklich.»
Welche Gerichte kommen Ihnen in den Sinn, wenn Sie an Ihre Kindheit denken?
Bei uns zu Hause wurde jeden Tag für eine grosse Tafel gekocht. Wenn man wie ich auf einem Bauernhof aufwächst, sieht man, wie das Gemüse im Garten wächst. Ich wurde so erzogen, dass man für das Essen arbeiten muss. Alles, was man macht, hat damit zu tun. Die Kühe melkt man für Käse, Butter oder Doppelrahm. Mir kommen dabei also als Erstes Nahrungsmittel in den Sinn.
Was hat Ihre Mutter aus den vorhandenen Produkten gekocht?
Meine Mutter war eine sehr gute Köchin. Ich lernte vieles in der Küche sehr früh durch sie kennen. Es gab Würste, Safranbrot und Vin Cuit, einen Dicksaft, der entsteht, wenn man Birnen- oder Apfelsaft lange einkocht. Ich liebe Moutarde de Bénichon (Chilbisenf – eine süsse Senfspezialität aus dem Kanton Freiburg, Anm. d. Red.) und am allerliebsten hatte ich die ganz feinen und zerbrechlichen Bénichon-Bretzeli.
Kochen kann Erinnerungen auslösen. Kennen Sie das?
Oh ja, natürlich! Eines Tages bin ich über eine Wiese gegangen, wo es nach Heu roch. Ich wollte diesen Geruch unbedingt in die Küche bringen, weil er mich an meine Kindheit erinnerte, als meine Mutter Schinken im Wasser mit Heu kochte. So entstand nach vielen Versuchen die «Poularde im Heu», eines der beliebtesten Gerichte im Hotel Fletschhorn in Saas-Fee, meinem damaligen Restaurant. Dazu servierte ich eine Kartoffel-Mousseline mit Safran. Zum Dessert gab es eine Art Tarte Tatin mit ganz dünnem Blätterteig und Doppelrahm.
Das tönt fantastisch.
Ein Traum für den Gaumen und die Sinne! Dabei dachte ich anfangs: «Was mache ich dort draussen allein im Wald, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen, mit zwei kleinen Töchtern und einem Mann?» Nach und nach merkte ich, dass die Welt zu mir kommt. Das hatte auch mit dem Buch «100 Orte, die du gesehen haben musst, bevor du stirbst» zu tun. Das Hotel Fletschhorn war einer dieser Orte. Das brachte uns viele Gäste von überall her.
«Niemand wollte mich in der Küche»
Sie sagten, dass Sie schon früh Köchin werden wollten. Was hat Sie an dem Beruf gereizt?
Nicht der Beruf hat mich gereizt, aber das Wissen eines Kochs. Als Kind hatte ich keine Vorstellung, was ein Koch macht. Aber ich wollte kochen und eine Lehre als Koch machen. Alle haben mir gesagt, dass dies als Frau nicht möglich sei. Niemand wollte mich in der Küche. Ich habe in der Westschweiz keine Lehrstelle gefunden, im Tessin auch nicht. Nur in der Deutschschweiz. Damals war man dort ein bisschen moderner als wir Romands.
Welche Erinnerung an die Lehre als Köchin haben Sie?
«Koch» hiess das damals. Das war ein Unterschied. Die Lehre als Köchin war kürzer. Dieser Beruf war für Sanatorien, Spitäler und Heime gedacht. Ich wollte aber die lange Lehre als Koch machen. Ich war damals die einzige Frau, die das wollte, aber das hat mir nichts ausgemacht. Ich habe mir nie etwas aus dem Unterschied zwischen Frau und Mann gemacht. Für mich ist ein Mensch ein Mensch. Ob Frau oder Mann, ist mir egal. So war ich es von zu Hause gewohnt.
Wie meinen Sie das?
Wir hatten auf dem Bauernhof Frauen und Männer als Angestellte. Sie mussten arbeiten können, das war das Einzige, was zählte! Heuen, Tiere füttern, Kühe melken: Egal, welche Arbeit gerade anstand, sie musste erledigt werden. Darum ging es.
Wie war denn die Stimmung Ihnen gegenüber in der Küche?
Ich muss ehrlich sagen, dass ich damit wenig Probleme hatte. Auch später im Hotel Hilton in Montreal, wo ich mit sehr vielen Köchen arbeitete, habe ich keine schlechten Erfahrungen gemacht. Sie haben lange in Kanada, den USA und Mexiko gearbeitet.
Warum sind Sie damals ins Ausland gegangen?
Wenn du gut werden willst, musst du wissen, wie es andere machen. Du kannst überall etwas lernen. Wenn ich sehe, mit wie wenig die Frauen in Afrika oder Asien in Strassenküchen kochen, wie sie es schaffen, mit wenigen Zutaten etwas Aussergewöhnliches zu kreieren, dann inspiriert mich das enorm.
Wie hat Sie die Zeit im Ausland kulinarisch geprägt?
In Kanada kochte ich damals viel Hummer, Lachs, Königskrabben und Langusten. Diese Produkte gab es zu dieser Zeit in der Schweiz nicht. Ich lernte ihre Zubereitung dort. Und ich diskutierte viel mit den anderen Köchen. Unsere Tochter sagt immer: «Gehe nicht mit meiner Mutter mit, wenn sie mit einem Koch unterwegs ist. Dann reden sie nur übers Kochen.» (Lacht.)
Sie kochen weiterhin mehrgängige Menüs, beispielsweise auf Flussreisen oder zur Weihnachtszeit im Restaurant Kiosk beim Hafen Riesbach in Zürich. Der Ruhestand kommt nicht infrage?
Was heisst Ruhestand? Auf einem Bett Liegen und ein Buch lesen? Irgendwohin zu gehen, um zu kochen, das gefällt mir. Ich bin noch nicht tot. (Lacht.) Ich denke nie daran, wie alt ich bin. Ich koche weiter, solange ich lebe. Ich kann von mir aus in der Küche sterben.
Sie waren zweimal Köchin des Jahres, hatten sich Gault-Millau-Punkte und als erste Frau in der Schweiz einen Michelin-Stern erkocht. Was bedeutete Ihnen das?
Es ist eine grosse Ehre. Es hat mich gefreut, dass meine Leistung anerkannt und ich dadurch bekannt wurde. Aber ich habe nie für Punkte oder Sterne gekocht, sondern dafür, dass die Leute zu mir zurückkommen. Ich habe den Gästen jeweils ein kleines Glas mit Konfitüre mitgegeben. «Wenn es leer ist, kommen Sie wieder», habe ich dann gesagt. Und viele haben es getan. Sie haben das Hotel Fletschhorn zusammen mit Ihrem Mann Hans-Jörg geführt. Er war der Sommelier und Sie die Köchin.
Warum hat es funktioniert zwischen Ihnen beiden?
Das ist einfach. Ich habe mich nie in die Weinauswahl eingemischt. Er hat in diesem Bereich das viel grössere Wissen. Dafür hat er sich nie in der Küche eingemischt.
Hilft es, wenn beide aus dem gleichen Metier kommen?
Auf jeden Fall. Ich könnte mir nicht vorstellen, mit einem Banker oder Coiffeur zusammen zu sein. Über was sollten wir auch sprechen? Wer nicht vom Fach ist, kann nur schwer nachvollziehen, dass man am Abend immer weg ist. Sonntage, Muttertage, Weihnachten, das spielt keine Rolle. Wir waren immer für die Gäste da. Es ist lange her, seit Sie von Gruyère aus in die Welt gezogen sind.
Gehen Sie noch oft nach Hause?
Ja, meine Schwester wohnt immer noch dort. Ich fühle mich der Region nach wie vor verbunden. Den Produkten sowieso, dem Käse ganz besonders. In Gruyère holen wir den Käse noch direkt beim Käser. Ich schätze diesen Austausch mit den Produzenten und vermisse ihn heute.
UNERMÜDLICHE CHEFKÖCHIN
Irma Dütsch wurde am 30. Oktober 1944 als jüngstes von sechs Kindern in Estavannens in Gruyère FR geboren. Nach der Kochlehre in Rheinfelden AG kochte sie einige Jahre im In- und Ausland, bevor sie mit ihrem Ehemann Hans-Jörg während 30 Jahren das Hotel Fletschhorn in Saas-Fee VS führte. Dütsch erkochte sich 18 Gault-Millau-Punkte und war die erste Schweizer Frau, die vom Restaurantführer Guide Michelin mit einem Stern ausgezeichnet wurde. Die Spitzenköchin hat zwei erwachsene Töchter und wohnt in Saas-Fee.
Text: Rico Steinmann
Foto: Joël Hunn